Hinterm Ostkreuz (Ein Wintermärchen)


Wohin verkriecht ein Spatz sich wohl im Winter
in Friedrichshain, wenn früh der Abend graut?
Auf dem Boxi steh ich jetzt,
denn ein Freund hat mich versetzt.
Und so mancher, der mich radfahrn sieht, denkt: Spinnt der?
Bei Frost gehört ein Fahrrad doch verstaut! 

Hat plötzlich deine Tagesplanung Lücken,
doch heimzufahrn ist leider noch nicht dran,
dann rollst du durch den Schnee,
schaust, ob irgendein Café
dich hier wohl einlädt, die Zeit zu überbrücken.
Ich entscheide mich nur selten für gleich nebenan.

Und dann lass ich so beim Strampeln
gern auch mal die roten Ampeln
mit entscheiden, ob ich rechts fahr oder links,
um dann hinter sieben Ecken
mit Verblüffen zu entdecken:
Mensch, hier biste ja schon außerhalb des Rings!

Von Gleisen bin ich dennoch rings umfangen,
von Brücken und 'nem Bahndamm wie ein Wehr.
Zwei Blöcke weiter thront, umschneit,
ein Viadukt aus Wilhelms Zeit,
dazwischen Häuser, so als sei die nie vergangen.
Wenn hier Lichtenberg ist, wie passt dies hierher?

Neuschnee füllt die Straßenpflasterklüfte.
Flocken wirbeln im Laternenlicht,
das gelb und warm, obwohl es friert,
mit der Dämmerung konkurriert.
Und plötzlich wehen Laute durch die Lüfte,
als sei das Fenster einer Zoohandlung nicht dicht.

Und ich wende sehr verwundert
mein Gefährt um genau hundert-
achtzig Grad, und habe bald darauf kapiert,
daß das schallende Gelärme
ungezählter Vogelschwärme
aus dem Efeudickicht einer Hauswand rührt: 

Fensterlos und finster ragt die Wand dort
in den feuchtkalten Dezemberabend auf.
Gerade hier hat sich, wie's scheint,
alles, was zwitschern kann, vereint
an einem großen, wohlig-warmen Winterstandort.
Wer hier wohnt, der ist dem Anschein nach gut drauf.

Ich frage eine Frau in Schal und Mütze,
die sich gerade aus dem Fahrradsattel schwang,
ob es aus diesem Efeuwald
wie heute jeden Abend schallt.
Sie lächelt durch die Wollwindungen-Ritze:
"Jawohl, und zwar den ganzen Winter lang."

Hinterm Ostkreuz ist die Welt zuende,
jenseits türmt sich Lichtenberger Grau.
Daß dazwischen noch was liegt,
wohin ein Spatz im Winter fliegt,
womöglich gar besiedeltes Gelände –
Hab ich das echt erlebt? Ich weiß nicht mehr genau.




(Holger Saarmann)

© by Holger Saarmann, Mai 2016



Beyond the Ostkreuz (A winter tale)


Where does a sparrow crawl in winter
in the Friedrichshain district, when dusk comes early?

At the Boxhagener Square I'm standing now,
stood up by a friend.
And some who see me cycle think, I'm nuts:
In frost, a bike should be stored!

If gaps suddenly appear in your day's schedule,
but it's not the turn yet for going home,
then you're rolling through the snow,
looking out for some café
that will invite you to bridge time.
I rarely decide for next door.

And then, while pedalling,
some time, I let the red lights
join my decisions to turn right or left,
just to discover with surprise,
after seven corners:
Man, you're already outside of the urban railway ring!

And yet, I am still surrounded by railways,
by bridges and a rail embankment like a barrage.
Two blocks ahead, curtained by snow,
thrones a viaduct from the era of (emperor) Wilhelm,
with houses in between, as if that time had never passed.
If this is Lichtenberg district, how does that fit in?

Fresh snow fills the cobblestone gaps.
Flakes twirl in the street lamp light,
which yellow and warm, dispite the frost,
competes with dusk.
And suddenly, sounds wave through the air,
as if a pet shop window was not closed tightly.

And very astonished, I'm turning 
my vehicle in a 180 degree ancle
and soon, I have understood
that the clangorous noise
of countless flocks of birds
arises out of the ivy thicket on a house wall:

Windowless and und gloomy, that wall looms
up into the clammy December evening.
Precisely here, so it seems,
anyone who can twitter has united
at a big cozily-warm winter base.
He who lives here apparently is in good mood.

I'm asking a woman in a woolly scarf and hat,
who just dismounted from her bike saddle,
if the sound out of that ivy copse
was the same every evening.
She's smiling through a gap in the woollen wraps:
"That's right, in fact the whole winter long."

The world ends at Ostkreuz station,
beyond stretches the grey of Lichtenberg.
That there's something in between
where a sparrow goes in winter,
possibly even populated terrain –
Did I really experience this? I'm not sure anymore.





(Holger Saarmann)

© by Holger Saarmann, May 2016

 



>> CD "Phantomzeit"






Geschrieben (fertiggestellt) Anfang Mai 2016 für das "Geschmacksverstärker"-Motto "Zwischenräume"

uraufgeführt spontan mit Johannes Kirchberg am Klavier und Andreas Albrecht an der Cajon.



                                       




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