Kleine
Straßen
Abgeschirmt vom Lärm der großen Straßen,
den mancher für das wahre Leben hält,
erstreckt sich eine völlig andre Welt,
eine Welt von außerordentlichen Maßen.
Das Leben und wodurch es Sinn erhält,
wohnt in den kleinen Straßen dieser Hinterwelt.
Die meisten Autos werden hier nie fahren,
denn Straßen, die das Navi nicht nennt,
die sind für manchen schlicht nicht existent.
Dem Spaziergänger, dem wird sich offenbaren:
Die kleinste Straße, wo immer auch versteckt,
führt überall dich hin – und sei es indirekt.
Im Frühling stehn hier alle Fenster offen.
Von oben, hinter all der Blütenpracht
hallen Liebesseufzer in die süße Nacht.
Daß du daheim bist, Liebste, will ich hoffen:
Es steht dein Haus, das vor sich hin verfällt
in einer dieser Straßen durch die Hinterwelt.
Wir frühstückten im Sommer dort, im Vierten,
vor deinem Küchenfenster auf dem Baugerüst.
Weil noch immer keiner ausgezogen ist,
gehört dein Haus zu den noch nicht Sanierten.
Manch Investor glaubt ans leicht verdiente Geld
und mancher, dem es hier gefällt, erkauft sich seinen Platz in der Hinterwelt.
Wir Fußgänger, die diesen Kiez bewohnen,
wir wissen: Wenn man uns den Gehweg sperrt,
dann werden Baustellen zu Fußgängerzonen,
wenn einer Freitagsnacht den Zaun beiseite zerrt.
Und wenn Laternenschein das Labyrinth erhellt,
tanz ich mit dir auf den Straßen durch die Hinterwelt.
Schaust du im Herbst hinüber zur Fassade,
erkennst du, wenn die Nacht schon früh beginnt
und die Vorhänge nicht zugezogen sind,
vom Erdgeschoss bis unter die Mansarde
durch die Dämmerung des abendlichen Graus
einen Setzkasten des Lebens im ganzen Nachbarhaus.
Als dir bestimmter Gruß von gegenüber
scheint all der bunte Fensterschmuck gedacht,
der die Kluft zwischen den Jahren lichter macht.
Ich gesteh: Ein echtes Winken wär mir lieber
und hoff auf Schnee, der früh im Winter fällt –
als Decke für die kleinen Straßen in der Hinterwelt.
Das ist die Gegend, mit der ich mich umgebe –
vom vierspurigen Trubel unberührt.
Und fragt man mich, in welcher Welt ich lebe,
wohin ich denke, daß mein Weg wohl führt,
so erklär ich: Irgendwer hat mir erzählt,
die allerkleinsten Straßen führen durch die ganze Welt.
(Holger
Saarmann)
©
by Holger Saarmann, September 2013
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Small
Roads
Sheltered from the
big road noise
which many take for true life,
a quite different world extends,
a world of exceptional measure.
Life, and things that make life meaningful,
dwell in the little streets through the backworld.
Most cars will never drive here,
because what GPS neither knows nor indicates,
to some it simply doesn't exist.
To the stroller will be revealed:
The smallest street, wherever it may be hidden,
will take you anyplace – be it indirectly.
Here, in spring, all windows will stand open.
From above, beyond all the blazing blossom,
the lovers' moans echo in the sweet night.
I hope, woman, you will be at home:
There stands your house, decaying along,
in one of these streets through the backworld.
In summer, we had breakfast up in the 4th floor,
in front of your kitchen window, on the scaffold.
The fact that nobody moved out by now
explains why they haven't started repair work yet.
Some investor trusts in easy money,
and some who like it here, they just buy their part of the backworld.
We pedestrians who live in this neighbourhood,
we know, if they block the sidewalk,
then roadworks will turn to pedestrian areas
where someone tears apart the fences on friday night,
And when lanterns' light will illuminate the maze,
I'll dance with you on the streets right through the backworld.
If you look across to the opposite façade,
you see, when night falls early
and the curtains will not be shut,
from the basement up to the mansard,
through the dusk of evening grey
a letter case of life in the whole neighbour house.
As a greeting for across, meant for you,
all the window decoration seems to be,
enlightening the gap between the years.
I admit: I would prefer a personal signal
and hope for early snow in winter –
as a blanket for the little streets in the backworld.
That's the world I surround myself with –
untouched by city avenues' life.
And if they ask me which world I live in,
and where I think that my road will take me,
I explain: Somebody told me
that the tiniest little streets lead you through the whole world.
(Holger
Saarmann)
©
by Holger Saarmann, September 2013
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