Mein lyrisches Ich
Ja, grüß dich, mein lyrisches Ich!
Na, wie lief's in jüngster Zeit so für dich?
Du fragst, ob wir uns kennen
und woher, und das zu recht:
Du bist, um's so zu nennen,
ausgedacht, und ich bin echt.
Ich kenn dich, doch du wohl nicht mich.
So ist das meist beim lyrischen Ich.
Denn ich, ich schuf dich einst, mein lyrisches Ich,
aus Gedankenfluss und Tintenstrich.
Zuerst hab ich gemeint, ich sei
es selber und war ehrlich.
Dann schien die Wahrheit mir dabei
doch zunehmend entbehrlich
und überdies oft langweilig –
Für dich war Besseres geplant, lyrisches Ich.
Und schau: Seither hast du, mein lyrisches Ich,
viel mehr als ich erlebt unterm Strich:
Ob Abenteuer, Bett-
geschichten, Sinnlichkeit in Massen ...
Wenn ich dich nicht erdichtet hätt,
ich tät vor Neid erblasen!
Was schaust du denn so ärgerlich?
Sei doch zufrieden, Du, mein lyrisches Ich!
Ich geb gern zu, mein lyrisches Ich, daß mich
zuweilen Allmachts-Illusion beschlich:
Wo du 'ne Frau am Wickel hast,
die willig sich dir schenkt,
schau ich, daß es ins Versmaß passt
und nicht die Zeilen sprengt.
Und stets erlebst du unweigerlich
nur das, was sich auch reimt, mein lyrisches Ich!
Doch da fällt mir ein, mein lyrisches Ich:
Von dir gibt's ja nicht nur eins, sondern zig!
Wird nicht beim Dichten jedesmal
ein neues Ich geboren?
Somit wärst du in Überzahl
und hast dich längst verschworen
gegen deinen strengen Schöpfer sicherlich ...
Sei bitte nett zu ihm, lyrisches Ich:
Ich bin doch selber nur ein lyrisches Ich!
(Holger Saarmann)
© by Holger Saarmann, April 2018
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My narrative Persona
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